Vor 75 Jahren: Ostern 1948 feierte Pater Wiktor in Mesum seine Primiz

Sommergeschichten 2023

Pater Wiktor

Mesum „Eine große Feier, wie sie Mesum lange Jahre nicht mehr gesehen hatte, brachte der Ostersonntag 1948,“ erinnert sich fast euphorisch Pfarrer Franz Bakenecker in seiner „Geschichte der Kirchengemeinde Mesum im 3.
Reich“ im Abschnitt „Ende des Krieges“. Er beschreibt damit „die Primiz des hochw. P. Wictor.“ Für die Mesumer Bevölkerung war es drei Jahre nach Kriegsende  inmitten bitterer Nachkriegszeit ein Tag der öffentlichen Freude. Angesichts dieser Situation darf es nicht verwundern,  wenn Pfarrer Bakenecker sich bei der seiner weiteren Schilderung weit  nüchterner Worte bedient: „Das ganze Dorf nahm regen Anteil. Reicher Schmuck vom Hause Rüschoff, wo er wohnte, bis zur Kirche. Im Schwesternhause war das Essen, zu dem alle Wohltäter geladen waren.“

Wer war nun vor 75 Jahren dieser Neupriester und Pater Wiktor? Über ihn gibt es in den Unterlagen und Archiven nur wenige Mitteilungen, die auch durch Forschungen des Mesumer Paters Dr. Ludger Feldkämper, der ein Mitbruder von ihm war, nur wenig ergänzt werden können. Eine wichtige Zeitzeugin ist allerdings dabei Lieselotte Lammers (Jahrgang 1929) von der Ringstraße. Die 94-Jährige erinnert sich als Jugendliche noch gut an ihn, denn er wohnte zeitweilig im Hause ihrer Eltern August und Maria Beimann. Daher kann sie einiges über ihn erzählen.

Bevor wir hierauf näher eingehen, schauen wir auf die Fakten aus Archiven und Aufzeichnungen, die insgesamt allerdings nur wenig über Person, Herkunft und Namen aussagen. Danach kam er aus Polen. Daher gibt es unterschiedliche Schreibweisen: Pater Wenzeslaus Viktor (eingedeutscht), aber auch Wenceslaus (Vaclav) Wiktor. Verwenden wir hier in dieser Sommergeschichte die Schreibung von Pfarrer Bakenecker, die wohl in Mesum geläufig war: Pater Wiktor.

Die von Dr. Feldkämper benutzte Chronik des Missionshauses St. Arnold verfügt über wenige Daten. Das Haus (heute Arnold -Janssen-Gymnasium)  war ein 1929 eingeweihtes Internat und Missionshaus der Steyler Missionare (SVD), einer 1875 von Arnold Janssen gegründeten Ordensgemeinschaft. Wie nahezu alle kirchlichen Einrichtungen geriet die Gemeinschaft mit ihrem Haus wiederholt in das Visier des NS-Regimes. Das Ordenshaus wurde bereits 1940 in ein Lazarett umfunktioniert. Dort wohnten neben den Patres zeitweilig auch aus anderen Häusern ausgewiesene Klerikernovizen.

Einer von ihnen war Pater Wiktor. Er wurde 1916 geboren und trat bei den Steylern ein, bei denen er 1941 als Novize in Neiße geführt wird. Vermutlich musste er fliehen oder wurde nach St. Arnold vertrieben, wo er als ein Pater Scholastika (Gemeint ist hier ein Pater, der im letzten Studienjahr ist) lebte und wohnte. „Er stammte aus Polnisch-Oberschlesien – studierte in Steyl – wurde im Kriege gezwungen, in der Fabrik Kettelhack zu arbeiten – hatte es oft schlecht  – fand aber auch manche Wohltäter, bes. die Familie Rüschoff, die ihn schließlich bei sich aufnahm. Nach dem Kriege studierte er weiter, wurde in St. Augustin geweiht“, kennen wir von Pfarrer Bakenecker stichwortartig einige Fakten.

Es gelang Pater Wiktor somit trotz aller Schwierigkeiten, seine Ausbildung und Studien fortzusetzen und seinen Weg als Priester zu vollenden. Darüber ist in der St. Arnolder Chronik zu lesen: „Der Ostertag (23.3.1948) ist uns ein besonders froher Tag gewesen; wir feierten die Primiz von drei polnischen Patres; Wiktor, Grüner, Casperek. Die drei genannten haben während des Krieges in St. Arnold ihre Heimstatt gefunden und konnten ihr Noviziat hier beenden, die Philosophie absolvieren und sogar einen Teil der Theologie. Wenn die Professoren auch mit anderen Arbeiten überlastet waren, so sind doch die Examina rite gehalten worden und kirchenrechtlich ist alles in Ordnung. Manchmal stand wegen der polnischen Mitbrüder tatsächlich das Haus in einer kritischen Lage. Doch hat uns Gott immer beschützt. Umso mehr haben wir uns gefreut, dass diese drei Mitbrüder ihr Ziel tatsächlich erreicht haben. P. Nov.-Meister Lillig, der ja auch die ganze Zeit hier gewesen ist, hat die Festpredigt gehalten, und er sprach uns allen zu Herzen. In der näheren und weiteren Umgebung haben die genannten ebenso ihre Primiz gehalten. So vor allem P. Grüner in Langenhorst, P. Casperek im Matthiasspital, P. Wiktor in Mesum, wo er lange Zeit in der Fabrik arbeitsverpflichtet war. Die Gemeinde Mesum hat ihn dermaßen gefeiert, als ob es ein Sohn der Gemeinde gewesen sei.“

August und Maria Beimann boten Pater Wiktor in schweren Jahren Wohnung, Hilfe und Schutz

Lieselotte Lammers, geborene Beimann, kann aus ihrem Erleben weitere Details aus der Vita von Pater Wiktor beitragen. Denn ihn traf ein hartes Schicksal, das er im Krieg mit vielen Landsleuten teilen musste: Er war als Zwangsarbeiter in der Mesumer Textilindustrie verpflichtet und war im Werk Kettelhack eingesetzt. Mit Männern und Frauen, meist aus den von Deutschen eroberten und besetzten Ostgebieten stammend, schuftete er tagtäglich unter unmenschlichen Bedingungen im Betrieb, recht- und schutzlos der Willkür des deutschen Wachpersonals ausgesetzt. Um Arbeit, Wohnen und Studium koordinieren zu können, suchte er in Mesum ein Zimmer zum Schlafen. Das fand er bei seinem Arbeitskollegen August Beimann, der sich in das Haus Rüschoff eingeheiratet hatte. Solcherlei Beistand war zur damaligen Zeit keineswegs gefahrlos. Denn Kontakt und Umgang mit Zwangsarbeitern war damals der heimischen Bevölkerung streng verboten und konnte hart bestraft werden. Nichts desto weniger halfen immer wieder Mesumer Familien, so gut sie konnten. Für Pater Wiktor war das auch die Familie Overmeier.

Er sah am Arbeitsplatz täglich die unsägliche Not der Zwangsarbeitenden und erlebte deren Drangsale, Hunger und wiederholt körperliche Übergriffe. Vor allem für die jungen Frauen, mitunter schwanger oder bereits mit kleinen Kindern, setzte er sich ein. Dafür wurde er einmal vom deutschen Wachpersonal brutal zusammengeschlagen. Hätte man den Schwerverletzten nicht rechtzeitig ins Haus Rüschoff-Beimann geschafft und wäre Dr. Süß nicht gekommen, um ihn nach damaligem Recht verbotenerweise medizinisch zu versorgen, hätte er wohl nicht überlebt. Notdürftig versorgt überstand er die Nacht. So habe es immer wieder, weiß Lieselotte Lammers, bei ihr zu Hause weiterhin heimlichen Besuch von ratsuchenden Landsleuten gegeben: „Er half in seiner freundlichen Art allen, so gut er konnte.“

Ebenso gut erinnert sie sich auch an den Primiztag. Dazu hatten vor allem die Nachbarn ihr Wohnhaus an der Ecke Kolgeweg/Ludgeristraße (heute Ringstraße) mit Grüngirlanden und Fähnchen und die Straßen bis zur Kirche festlich mit Fahnen geschmückt, um dem Primizianten samt Familie Rüschoff-Beimann, Messdienern, Gemeindeprominenz, Freunden und Bekannten festliches Geleit durch das Dorf zu geben, wo sich zahlreiche Zuschauer an den Straßenrändern drängten: „Ganz Mesum war auf den Beinen.“ Denn in Mesum anerkannte man Pater Wiktor längst als „einen Sohn der Gemeinde“. Unf feierte daher gemeinsam mit ihm seinen Festtag. Nach dem Festgottesdienst ging es über die ebenso fein geschmückte Bahnhofstraße zum Krankenhaus (heute HOT), wo man sich gemeinsam „mit allen Wohltätern“ zu Empfang, Frühstück und Essen zusammenfand. Dieses „Schwesternhaus“, wie man in Mesum immer das Krankenhaus nannte, war mit seinem Saal der repräsentativste Ort für besondere Empfänge und Ehrungen, Gelegenheiten und Festanlässe in der Gemeinde.

Weitere Kontakte und Begegnungen mit Pater Wiktor sind wie sein weiterer Lebenslauf wenig dokumentiert. „Seine 1. Anstellung fand er in seiner Heimat, wo seine Mutter und Geschwister noch leben“, kann Pfarrer Bakenecker darüber zu  berichten. Mit der Familie Beimann gab es gelegentliche briefliche Kontakte und persönliche Schreiben zu ihm nach Polen. Verbunden waren damit vielfach Bitten um Hilfssendungen. Diese Verbindungen seien jedoch zu Beginn der 1960er Jahre ausgelaufen, „je älter meine Eltern wurden“, so Lieselotte Lammers, die zu dieser Zeit ins Elternhaus zurückkehrte. Auch Ludger Feldkämper vermutet, dass „ Pater Wiktor nach der Weihe nach Polen ging und dort in verschiedenen Orten tätig war“ Dann verloren sich die Spuren: „Möglicherweise trat er aus dem Orden aus und arbeitete als Weltpriester in Brasilien.“ Das vermutet auch die Familientradition im Haus Overmeier, die sich ihm lange verbunden fühlte. Bericht: Franz Greiwe; siehe auch mv-online.de; Bilder: privat

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