Alte Grabinschrift konnte jetzt enträtselt werden

Jahrzehntealtes historisches Geheimnis gelüftet:

Mesum Die alte Inschrift auf einem historischen Grabmal auf dem Friedhof hinter der alten Kirche gehörte über Jahrzehnte zu den letzten Geheimnissen und ungelösten Rätseln in der Mesumer Geschichte. Die Schrifttafel aus weichem Sandstein war so verwittert, dass der Text unleserlich war, so sehr sich lokale Forscher auch damit auseinandersetzten: Die hier bestatteten Mesumer blieben unbekannt, da nicht einmal kleinste Textfragmente zu entziffern waren. So entstand, wie das so oft ist, hierzu viel Raum für Spekulationen und Legenden.

Nun gibt gelegentlich Glücksfälle, die zumeist recht unerwartet kommen. Ein solcher Zufall entstand aus der Situation, dass sich bei einigen alten Grabmälern auf dem Friedhof bei der Prüfung ihrer Standsicherheit einige Probleme ergaben, die eine Überarbeitung dringend erforderlich machten. Die Pfarrgemeindeleitung beauftragte damit das Fachunternehmen des Bildhauer- und Steinmetzmeisters Peter Bruning, der daraufhin drei große alte Grabmonumente abbaute. Verbunden waren damit neben Materialuntersuchungen und einer nachfolgenden Neuaufstellung auch unumgängliche Renovierungsarbeiten wie eine Grundreinigung und das Ausbessern von Fehlstellen.

Nach diesen vorsichtig ausgeführten Arbeiten und Verfestigungen erschienen überaschenderweise nun einige deutbare Bruchstücke der Inschrift aus Buchstaben- und Zahlen. Gemeinsam mit Peter Bruning, der zusätzlich mit einem Scheinwerfer für Licht und Schatten sorgte, was die Konturenbildung verbesserte, konnten dann Wort- und Datenteile erkannt werden. Somit kam im wahrsten Sinne des Wortes Licht in die Angelegenheit und führte auf die richtige Spur. Erste wichtige Erkenntnis: Einstmals waren zwei Namen auf der Tafel verzeichnet, so dass es sich hier um die Grabstätte einer Familie handelte.

Es kam noch besser. Deutlich waren Buchstaben und Zahlen so weit zu lesen und zuzuordnen, dass sich ein Wort- und Textzusammenhang erstellen ließ: „Bertels“ als Name der unteren Person mit den Eintragungen „9. Febr. 1820“ als Geburtsdatum und „2. Aug. 1906“ als Todestag. Auch für vordere Person ergaben sich einige Anhaltspunkte wie Fragmente zu „Bertels“ und die Jahreszahlen „1823“ und „1883“. Mit dem Wissen aus der lokalen Geschichte stand damit sicher fest: Hier handelte es sich um die Grabstätte der Familie Bertels.

Nun half akribische Detailarbeit im Archiv, in Quellen zur Ortsgeschichte und weiteren Veröffentlichungen sowie Materialiensammlungen zur Absicherung der bisherigen Erkenntnisse weiter, um die Grabinschrift weitgehend zu rekonstruieren. Eine komplette Wiederherstellung ist jedoch nicht möglich, weil die Eingangszeile der Inschrift ohne identifizierbare Zeichen blieb. Dort ist alles tief verwittert und abgeplatzt. Man kann jedoch davon ausgehen, dass es sich um die üblichen Formulierungen gehandelt haben muss, wie sie auf benachbarten Grabsteinen zu lesen sind: „Hier ruhen in Gott“ oder „Hier ruht die Familie“. Die Namen sind allerdings sicher zu rekonstruieren: „Ignatz Bertels, geb. 30. Juli 1823 gest. 9.6.1883“ und „Theresia Bertels geb. Engeln, geb. 3.2.1821 gest. 2.8.1906“.

Diese Hinweise, und Erkenntnisse sowie Nachforschungen in Mesumer Kirchenbücher lieferten dann detailreiche Puzzleteile zu einem interessanten Bild aus der Mesumer Sozial-, Auswanderer- und Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Alles dreht sich um Ignatz Bertels. Seine Geburt ist am 30. Juli 1823 für morgens um 5 Uhr beurkundet und er wurde noch am gleichen Tag von Pfarrer Schepers getauft. Als er 1883 verstarb, trug der damalige Pastor Pelle als Sterbestunde den späten Nachmittag „um 5 ½ Uhr“ und als Todesursache „Lungenlähmung“ ein. Ferner heißt es dort, dass er eine Ehefrau und keine Kinder hinterließ. Als Tag der Beerdigung ist der 13. Juni 1883 „auf dem Friedhof in Mesum“ vermerkt. Daher dürfte auch in diesem Jahr auch das Grabmal entstanden sein.

Zu seiner bewegenden Lebensgeschichte können Familienforscher Walter Rauß, Familienchronist Rieland und Hans Bertels aus Haarlem, Nachfahre der Familie aus Haarlem in Holland, zusätzliche Fakten beitragen. Demnach gehörte Ignatz Bertels zu den 32 Mesumern, die zwischen 1833 und 1850 auswanderten. Er ging 1849 gemeinsam mit seinem 54jährigen Vater Bernard Gerhard, der wie sein Sohn von Beruf Heimweber und Kötter war, nach Leiden in Holland. Vermutlich war für das beide keine Reise ins Ungewisse, denn zu dieser Gegend unterhielten damals verschiedene Mesumer Kaufleute intensive Handelsbeziehungen, denn sie verkauften dorthin seit Jahrzehnten das von Mesumer Heimwebern produzierte Leinen. Den ersten beiden Bertels folgten dann alsbald weitere Familienmitglieder, die dann bis heute in Holland die inzwischen weitverzweigte Bertels-Familie begründeten und deren Nachfahren sich 1991 bei einem großen Familientreffen in Mesum weitgehend zum ersten Mal kennenlernten.

Als „Pakkenträger“ wird Ignatz Bertels 1849 bei seiner Einwanderung in Leiden amtlich registriert. Darunter verstand man reisende Händler und Kleinkaufleute, die anderswo auch als „Tödden“ bezeichnet wurden. Mitten in der Stadt am Gemüsemarkt erwarben Vater und Sohn ein „groot, diep en hoog huis“ mit einem „Winkelpand“. Übersetzt versteht man darunter „ein großes, breites und hohes Haus mit einem Geschäftslokal“. Hier gründeten sie mit großem Erfolg ein Textilgeschäft und stiegen damit in einen Erwerbszweig ein, dem sich zu der Zeit viele deutsche Auswanderer widmeten.

Das Unternehmen, das Ignatz alsbald allein führte, florierte und brachte Ansehen und Reichtum. Leider blieb seine erste Ehe mit Elisabeth Fleur, geschlossen am 3. Februar 1858, kinderlos. Das mag neben Heimweh ein Grund gewesen sein, dass er sich nach dem Tod seiner Frau entschloss, die Geschäftsführung seinem Neffen gleichen Namens zu übertragen und in seinen Geburts- und Heimatort Mesum zurückzukehren. Möglicherweise waren es auch Erinnerungen an seine Jugendbekanntschaft Theresia Engeln. Jene war die am 3. Februar 1821 geborene Tochter von Anton Engeln (später Metzgerei Overmeier). Sie arbeitete in verschiedenen Familien als Dienstmagd und führte zeitweise die „etwas verlodderte Wirtschaft des Kaufmannes Ignatz Bertels“, so Familienchronist Rieland. Beide heirateten am 27. Januar 1863 in Mesum.

Das Paar blieb noch Jahre in Leiden, um ihre Geschäfte zu überwachen. Dann entschlossen sich 1870 beide, in die Heimat zu ziehen und erwarben in der Dorfmitte an der Straße nach Rheine vom Schuster Bussmann das Anwesen Dorf 39. Von holländischen Bauleuten ließen sie sich darauf ein von Materialwahl, Stilelementen, Zierformen und Architektur her für Mesumer Verhältnisse ein recht ungewöhnliches Wohnhaus errichten. Leider blieb auch die zweite Ehe kinderlos. Fast zeitgleich mit beiden kam 1872 auch Bernard Engeln, der 1818 geborene Bruder von Theresia Bertels, wieder nach Mesum zurück. Auch er war als Auswanderer in der holländischen Stadt Purmerend als Textilkaufmann mit eigenem Manufakturgeschäft sehr erfolgreich. Er verkaufte es später, erwarb mit dem Erlös gleich hinter der Mesumer Kirche das große Fachwerkhaus, das später die Kaplanei wurde, und verlebte dort bis zu seinem Tode 1901 als wohlhabender Rentier seinen Lebensabend.

Ignatz Bertels genoss von Anfang an im Dorf großes Ansehen. Denn er engagierte sich in den wenigen Jahren, die ihm noch blieben, für die Öffentlichkeit in Kirche und Gemeinde. 1881 wurde er in den Kirchengemeinderat gewählt, kam 1882 in den Kirchenvorstand und übernahm dort sofort bis zu seinem Tod das Amt des Vorsitzenden. Als seine Witwe 1906 verstarb, übernahm eine Erbengemeinschaft das Anwesen, die es 1928 an Clemens Kamp verkaufte. Jener errichtete dort ein Textilgeschäft, in dem heute ein Schuhhandel untergebracht ist.

Bemerkenswert ist, dass aus der jahrhundertealten Familie Bertels heute keine Nachkommen mehr in Mesum ansässig sind. Nachzuweisen in den Kirchenbüchern ist sie seit dem 17. Jahrhundert, als zum Beispiel 1678 die Geburt des Gerdt Bertels eingetragen wird, der am 16. Oktober 1762 verstarb. Wahrscheinlich bewohnten die Bertels das Anwesen Dorf 3 (heute Rheiner Straße 5), auf dem als Besitzer der 1737 geborene Kötter Gerard Bertels bezeugt ist. Er wie seine Familie mit Vater Bernard, Mutter Anna, Witwe Catharina und Schwester Anna werden auch im „Status animarum“ von 1750 genannt. Bericht und Bilder: Franz Greiwe; siehe auch mv-online.de

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